VON MOSKAU BIS AN DEN FLUSS KAMA

1. bis 14. September 2021

Wladimir. Foto: © Frank Gaudlitz

1. September 2021

Früh am Morgen brachen wir auf in Richtung Wladimir.

Ein kurzer Aufenthalt in dem Städtchen Pokrow, das auch Humboldt besuchte.

Die Fernstraße M7 namens „Wolga“, die Nischni Nowgorod, Kasan und Ufa mit Moskau verbindet, zerschneidet die Stadt in zwei Teile. Der Verkehrsfluss geht Tag und Nacht und erschüttert sowohl Häuser als auch die menschlichen Organismen. Tausende Motoren vergiften die Luft.

Wir fuhren die Franz-Stollwerck-Straße entlang. Ihren Namen erhielt die Straße im Jahr 2000 auf Beschluss der Stadtabgeordneten, weil 1997 die Firma Stollwerck, nachdem sie Dutzende Millionen Mark investiert hatte, eine Schokoladenfabrik in Pokrow eröffnete. Die Bewohner sind geteilter Meinung über diesen Straßennamen.

Nachdem wir der Fernstraße M7 einige Minuten Tribut gezollt haben, kamen wir auf die andere Seite der Stadt. Auch hier gibt eine „deutsche“ Straße, sie trägt wenig überraschend den Namen Karl Liebknechts.

Straßenverkehr in Pokrow. Foto: © Frank Gaudlitz
Straßenverkehr in Pokrow
Foto: © Frank Gaudlitz
Haus in der Lenin ulitza in Pokrow. Foto: © Frank Gaudlitz
Haus in der Lenin ulitza in Pokrow
Foto: © Frank Gaudlitz

Von Wladimir aus fuhren wir in Richtung Murom, in der Hoffnung, die Nacht irgendwo entlang der Landstraße zu verbringen. Fast die ganze Zeit führte die Straße durch den Wald.

Im Dorf Moschok gingen wir in den Laden der Lebensmittelkette „Pjatjorotschka“, gegenüber der alten Kirche einkaufen. An der Kasse sah ich einen seltsamen Aushang über ein Verkaufsverbot von Alkohol am 1. September sowie eine Menge DIN-A4-Fotos. Die Kassiererin erklärte, dass das Verbot des eintägigen Alkoholverbots vom ehemaligen Gouverneur stammt, die Fotos habe der Filialleiter des Supermarktes ausdrucken lassen, sie stammten von der Überwachungskamera und zeigten Dorfbewohner beim Ladendiebstahl.

Die alte Kirche in Moschok. Foto: © Frank Gaudlitz
Die alte Kirche in Moschok
Foto: © Frank Gaudlitz
Im Lebensmittelladen „Pjatjorotschka“ in Moschok: Ausgedruckte Fotos der Überwachungskamera zeigen Dorfbewohner beim Ladendiebstahl. Foto: © Frank Gaudlitz
Im Lebensmittelladen „Pjatjorotschka“ in Moschok: Ausgedruckte Fotos der Überwachungskamera zeigen Dorfbewohner beim Ladendiebstahl.
Foto: © Frank Gaudlitz

Es war bereits dunkel, als wir am Rande eines großen Feldes in der Nähe des Dorfes Malyschewo anhielten. Rund herum alles sauber und unberührt und das nächste Haus ein paar Kilometer entfernt.

2. September 2021

Das erste, was wir am frühen Morgen in Malyschewo sahen, war ein Open-Air-Kino. Ein eingezäunter Bereich, eine Bühne, auf der eine große weiße Leinwand gespannt ist. Dass es so etwas heute noch gibt! Ein Kerl, der in der Nähe versucht, seine „Buchanka“ zu starten, bestätigte es uns: Ja, sie stellen Bänke auf und zeigen mit einem Beamer Filme. Es gibt viele Zuschauer. Manchmal spielt auf der Bühne eine lokale Musikgruppe.

Direkt neben dem Kino, im Innenhof der Schule zeigen sich fünf orangefarbene Busse unterschiedlicher Größe, die Kinder aus den umliegenden Dörfern herbeigeschafft hatten.

An der Straßenkreuzung gibt es ein Lebensmittelgeschäft namens „Russland“, das Gebäude ist eine stilisierte Festung. Der Besitzer ist fasziniert von der Geschichte Russlands, er hat sich die Gestaltung des Gebäudes ausgedacht. Er hat zwei Transparente zum Tag des Sieges bestellt und an der Fassade aufgehängt.

Wanderzirkus am Rande des Dorfes Malyschewo. Foto: © Frank Gaudlitz
Wanderzirkus am Rande des Dorfes Malyschewo
Foto: © Frank Gaudlitz

Am Rande des Dorfes steht ein Wanderzirkus: eine Wagenburg aus Anhängern und ein paar Lastwagen. Widersprüchliche Gefühle: das freie Leben der Menschen in den Wagen, und das Leben der Tiere in Käfigen.

Wir fotografierten einen alten Invaliden, der auf einem Stuhl vor dem Haus saß. „Glück – das ist einfach leben“, sagte er.

Ein junger Rentner, der mit seiner Kettensäge im Hof lärmte, erzählte uns, als wir erzählten, dass wir nach Tobolsk fahren, dort habe er eingesessen. Dann zog er sein Hemd hoch und zeigte seine Tätowierungen.

Das kleine Dorf präsentierte sich mit zahlreichen Ereignissen.

In Murom. Foto: © Frank Gaudlitz
In Murom
Foto: © Frank Gaudlitz

Wir kamen nach Murom. Wir fuhren durch die Außenbezirke, zu Fuß erkundeten wir das Stadtzentrum.

Es war schon dunkel, als wir unser Nachquartier in einer Wohnung in einem Neubauviertel von Nishni Nowgorod fanden.

3./4. September 2021

Diese Tage verbrachten wir in Nishni Nowgorod, in Begegnungen mit Menschen und Spaziergängen durch die Stadt.

5. September 2021

Nach zwei Tagen in Nischni Nowgorod brachen wir nach Worotynez auf. Der Historiker Aleksandr Djushakow, Direktor des Museums, begleitete uns zur Fähre. Auf dem Weg zeigte er uns die Öltanks der Firma der Brüder Nobel, die noch vor der Revolution hier gebaut wurden.

Nachdem wir nach Wasilsursk übergesetzt haten, besuchten wir dort das Heimatmuseum.

Im Heimatmuseum in Wasilsursk. Foto: © Frank Gaudlitz
Im Heimatmuseum in Wasilsursk
Foto: © Frank Gaudlitz

Wir verbrachten die Nacht auf der Schischkin Anhöhe, hoch über dem Fluß Sura. In der Nacht öffnete sich über uns ein schwarzer, stockdunkler Himmel voller Sterne.

6./7. September 2021

Ein nebeliger Morgen an der Sura und der Wolga.

Wir fuhren Richtung Joschkar-Ola, die Hauptstadt der Teilrepublik Mari El, ungefähr 120 Kilometer. In Kosmodemjansk überquerten wir die Wolga mit der Fähre.

Die Sonne war bereits untergegangen, als wir uns auf den Weg machten, um die ungewöhnlichen Gebäude des Stadtzentrums in Joschkar-Ola zu besichtigen. Das ehemalige Oberhaupt der Republik Mari El, der den Bau begonnen hatte, verbüßt derzeit eine dreizehnjährige Haftstrafe.

Für zwei Nächte mieteten wir uns in einer Wohnung in der Nähe des Zentrums ein.

8. September 2021

Früh am Morgen verließen wir das bewölkte und noch menschenleere Joschkar. Nach Kasan. Die Straße hat viele gerade und lange Abschnitte, die durch den Wald führen.

Krasnogorsk, das Café am Straßenrand heißt „Asien“. Obwohl die Geographen behaupten, dass das hier Europa ist, haben sich die Bewohner offenbar anders entschieden.

Die Inselstadt Swijaschsk hat sich zu einem Touristenreservat herausgeputzt. Sie hat sogar Hubschrauberlandeplätzen am Eingang. Der einzige interessante Ort – mit einer traurigen Geschichte, ist die Stelle, wo die Weißen Garden zwei Soldaten der Roten Armee erschossen hatten. Das Denkmal ist bescheiden, eher friedhofsmäßig und baufällig.

Wir besuchten noch zwei weitere Orte, die obwohl nah beieinander, doch völlig unterschiedlich sind. Die Stadt Innopolis, wo in modernen Häusern aus Glas, Metall und Beton Programmierer sitzen und Computernetzwerke schaffen und den Ort Nishnie Wjasowye, wo sich ein Gefängnis befindet, dessen Mauer durch ein Drahtnetz auf zehn Meter erhöht ist, so dass es unmöglich ist, Gegenstände über den Zaun zu werfen.

Am Abend kamen wir in Kasan an, wo wir für zwei Nächte die Anker auf „Gasowaja“ (Gas-Straße) warfen.

9./10. September 2021

Um 12.00 Uhr ist eine Konferenz mit unseren Vorträgen angesetzt. Mehr als zwei Dutzend Menschen sind gekommen. Das ist viel für eine Veranstaltung, die nur zwei Tage vorher angekündigt wurde. Wir haben unsere Vorträge absolviert, beide innerhalb der vorgegebenen Zeit. Danach gab es viele Fragen.

Wir sahen uns die Ausstellung tatarischen Fotografin Ljalja Kusnezowa an. Interessant war eine Porträt-Serie von Juden aus Buchara aus dem Jahr 2008, oder besser gesagt, eine Fotografie, die einen älteren Mann zeigt, der in der Nähe seines eigenen Porträts sitzt, auf dem er, noch jung, mit zwei uralten Frauen in traditionellen Gewändern dargestellt ist. Ein Porträt mit Porträt. Eine ähnliche Kombination habe ich einmal im Fotoarchiv in Łódź gesehen.

Wir verließen Kasan in Richtung Malmysh. Für die Nacht kampierten wir in der Nähe des Dorfes Biktjaschewo, am Ufer des Flüsschens Schoschma. Zum ersten Mal benutzten wir die Standheizung, denn es wurde nachts recht kalt.

11. September 2021

Im Dorf Jangulowo. Foto: © Frank Gaudlitz
Im Dorf Jangulowo
Foto: © Frank Gaudlitz

Für eine halbe Stunde hielten wir zum Fotografieren im Dorf Jangulowo an. Es war zwischen sieben und acht Uhr. Elektronische Reklame-Tafeln mit Sprüchen aus dem Koran. Die Straßen waren noch menschenleer. Aber Traktoren sind unterwegs, es wird Mist gefahren du die Gemüsegärten werden geplägt. Lastwagen mit Silagekrümeln fahren vorbei, verstreuen die Krume auf der Straße, und die Hühner picken sie auf.

Farbenfrohes Haus in Malmysh. Foto: © Frank Gaudlitz
Farbenfrohes Haus in Malmysh
Foto: © Frank Gaudlitz
Fotograf in Malmysch. Foto: © Frank Gaudlitz
Fotograf in Malmysch
Foto: © Frank Gaudlitz

Das alte Malmysh erschien uns in Gestalt eines grauhaarigen Fotografen, dessen Atelier voller Uhren ist. Durch die hohen und staubigen Fenster dringt viel Licht. Dutzende von Uhren hängen an den Wänden und stehen in Regalen, ticken mit ihren Uhrwerken, zeigen sich in den Sonnenstrahlen. In einem anderen Teil des Ateliers, wo das Foto-Mysterium stattfindet, herrscht Dunkelheit und Frieden.

Wir verließen die Stadt und überquerten die Wjatka mit der Fähre. Dann kam eine zwanzig Kilometer lange Sandpiste, auf der wir nur sehr langsam fahren konnten, was viel Zeit in Anspruch nahm.

Wir verbrachten die Nacht am Rande der Stadt Kilmes, an einer Stelle mit Birken und Fichten inmitten der Felder. Die Nacht unter den Bäumen war ruhig und warm.

12. September 2021

Stanislaw Lenkimowitsch Knjashin in Selty.
Foto: © Frank Gaudlitz

Der kleine Ort Selty schenkte uns die Begegnung mit dem Gelehrten Stanislaw Lenkimowitsch Knjashin, Doktor der Geologie und Mineralogie, und Kenner der lokalen Geschichte. Wir sprachen über viele interessante Themen, die Schlammvulkane in der Nähe von Selty ebenso wie über die Theorien der Ausdehnung der Erde. Knjashin erzählte plötzlich und unerwartet, wie der Ilmensee entstanden ist. Wir erwiderten, dass wir die erste Nacht unsere Reise auf dem Ilmen verbrachten.

Unser Nachtlager hatten an einem stehenden Gewässer ein paar Kilometer von dem Ort Debjosy entfernt.

13. September 2021

Museum in Debjosy
Foto: © Frank Gaudlitz

Der Morgen begann damit, dass das Wasser im Kessel gefroren war. Der erste Nachtfrost.

Überraschenderweise gibt es in Debjosy ein Haus, das bereits Humboldt sehen konnte. Heute befindet sich darin en Museum. Ursprünglich wohnten hier die Wachsoldaten, die auf die Verbannten aufpassten.

14. September 2021

In Ochansk. Foto: © Frank Gaudlitz
In Ochansk
Foto: © Frank Gaudlitz

Ochansk bot uns als Nachtlager einen riesigen, mit Gras und seltenen Büschen bewachsenen Platz am rechten Ufer der Kama.

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